Die problematischen Ausmasse der Überwachung in Kolumbien haben sich im Lockdown weiter verschlimmert. Die ehemalige PBI-Freiwillige Sophie Helle hat mit dem Menschenrechtsverteidiger Germán Romero über die Lage gesprochen. Er erzählt von Datenverkäufen, Einschüchterung und der grossen Angst, die sich unter der kolumbianischen Bevölkerung breitgemacht hat.
Der kolumbianische Anwalt und Menschenrechtsverteidiger Germán Romero arbeitet für die Menschenrechtsorganisation DH Colombia. Er vertritt Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Strafverfahren gegen Beamte und hohe Offiziere der kolumbianischen Armee. Aufgrund dieser Arbeit erfährt er regelmässig Belästigungen, sie reichen von Telefonanrufen über Verfolgungen bis hin zu Morddrohungen. Deswegen wird Romero von PBI begleitet: Er erhält physischen Begleitschutz und PBI unterstützt ihn in der internationalen Sensibilisierungs- und Advocacyarbeit. Dies weiss Romero zu schätzen, er fühle sich dank der Begleitung weniger einsam und auf sich alleine gestellt, sagt er.
Gerade während der Ausgangssperre können Gefühle des Alleinseins besonders stark werden. Zur Zeit des Gesprächs dauerte der Lockdown in Kolumbien bereits vier Monate an und der Bewegungsfreiraum der kolumbianischen Bevölkerung war auf den eigenen Wohnraum beschränkt. Für die nachrichtendienstlichen Agenturen ein Vorteil: Seit über 120 Tagen arbeiteten die Internet-NutzerInnen immer am gleichen Ort mit stets der selben IP-Adresse, was die Überwachung stark erleichtert.
Freier Markt für den Nachrichtendienst
Doch die Überwachungsproblematik hat schon eine viel längere Geschichte als vier Monate; regelmässig werden neue Überwachungsskandale aufgedeckt. Ein Beispiel ist die Enthüllung der kolumbianischen Zeitschrift Semana im Mai 2020, die aufdeckte, dass eine Einheit der kolumbianischen Armee über 130 BürgerInnen (52 davon JournalistInnen) online ausspionierte.
Romero bezeichnet diese Überwachungspraktiken als freien Markt für den Nachrichtendienst: «Wir haben nicht nur eine, sondern mehrere Institutionen, die nachrichtendienstlich tätig sind. Sie sammeln und analysieren Daten, sie spionieren Leute aus. Dann verkaufen sie die Informationen an den Meistbietenden oder kooperieren untereinander im Namen eines ‹legitimen› Ziels.» Somit stehen die gesammelten Daten nicht nur den jeweiligen Nachrichtendiensten, sondern auch der Polizei, weiteren staatlichen Sicherheitsbehörden und sogar privaten Unternehmen zur Verfügung.
Konsequenzen für MenschenrechtsverteidigerInnen
«Die Folgen der ununterbrochenen Sammlung unserer Daten, mit der wir jeden Tag leben, sind nicht zu unterschätzen,» erklärt Romero. «Die ständige Überwachung hat für den ‹Normalbürger› keine lebensbedrohlichen Konsequenzen. Doch für BürgerInnen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen vertreten und für Gerechtigkeit kämpfen, ist die umfassende Datensammlung nicht nur eine umstrittene Massnahme, sie stellt auch eine echte Gefahr für die persönliche Sicherheit dar.»
So sorgen diese sich dauernd wiederholenden Geschichten in der kolumbianischen Bevölkerung für grosse Angst: «Ich verstehe nicht, wie wir ein demokratischer Staat sein sollen, wenn die einzige Emotion, die wir empfinden, Angst ist.» Für Romero ist der kolumbianische Staat eine Demokratie in der Krise, solange er seinen internationalen Verpflichtungen zur Untersuchung und Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen, die im Land stattfinden, nicht nachkommt.
«Quédate en casa»
Speziell im gegenwärtigen Ausnahmezustand ist dies ein grosses Problem. PBI ist besonders besorgt darüber, dass sich viele illegale Gruppierungen und Unternehmen nicht an die Ausgangssperre halten. Sie verfolgen ungestraft ihre Ziele, ohne dass AktivistInnen und Gemeinschaften ihnen entgegenwirken oder sich schützen können. Diese sind momentan physisch isoliert und erhalten häufig keine staatliche Unterstützung; die Corona-Massnahmen machen sie also noch verletzlicher.
«Ich glaube nicht, dass wir die Menschenrechte zu Hause vom Computer aus verteidigen können. Das geht in der realen Welt nicht,» bedauert Romero. «Indem MenschenrechtsverteidigerInnen ihre Arbeit nicht vor Ort ausüben dürfen, wird der Leitsatz ‹Quédate en casa› (Bleiben Sie zu Hause) totalitär und gibt Raum für Repression, Verfolgung, Überwachung und aussergerichtliche Hinrichtungen.»